Montag, 15. Oktober 2007

20 Jahre „Historikerstreit“

von Michael Moritz

Erstveröffentlichung in der "Alice" 13/2006

Eine unselige Debatte und ihre Folgen bis in die Gegenwart


Vorbemerkung

Nicht zu Unrecht mag das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Deutschen“ gesehen werden.

Zwei Weltkriege wurden von Deutschland entfesselt, beide sollten die Weltherrschaft (F. Fischer) bringen. Bereits Planung und Verlauf des I. WK zeigten die Konsequenzen des spezifisch deutschen Nationalbewusstseins, der Völkischen Ideologie (G. L. Mosse). Der Krieg wurde von deutscher Seite mit bis dahin ungekannter Brutalität geführt (Einsatz von Giftgas/“uneingeschränkter U-Boot-Krieg“), das internationale Völkerrecht mehrfach gebrochen (so wurde Belgien, ein neutraler Staat, überfallen und besetzt, zahllose Zivilisten – unter dem Vorwand der „Partisanenbekämpfung“ („Franktireurs“) – ermordet, einige zehntausend Männer als Zwangsarbeiter missbraucht).

Deutsche Soldaten wurden massenhaft geopfert (Verdun), weil die Oberste Heeresleitung (Hindenburg, Ludendorff) davon ausging, dass die deutsche Seite, da über mehr „Menschenmaterial“ verfügend, letztendlich gewinnen würde; beinahe eine Million Menschen starben im kaiserlichen Deutschland infolge der katastrophalen Versorgungslage an Hunger, oder an Krankheiten, die der Mangelernährung geschuldet waren. Absurde Vorstellungen der deutschen Seite bezüglich Friedensverhandlungen („Siegfrieden“) evozierten die harten Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten.

Nach dem Krieg sah man sich als „Opfer” internationaler „Verschwörungen“ (Juden, Kommunisten, Amerikaner), fühlte sich ungerecht behandelt durch den Versailler Friedensvertrag.

Antisemitismus, Antikommunismus und Revanchismus prägten das politische Klima der Weimarer Republik.

Der II. WK führte zu den größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, der Name des Ortes der umfangreichsten industriell betriebenen Massenvernichtung von Menschen, Auschwitz, bezeichnet den „Zivilisationsbruch“ (D. Diner) überhaupt.

Der bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reiches“ 1945 folgte keine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, vielmehr muss von Tabuisierungen, Verdrängungen, kollektiven Abwehrreaktionen gesprochen werden.

Diese wurden begünstigt durch die Situation des Ost-West-Konfliktes („Kalter Krieg“) und ermöglichten eine beinahe bruchlose strukturelle, politische, ökonomische und personelle Kontinuität des Nationalsozialismus im westdeutschen Nachkriegsstaat (N. Frei; R. Giordano).


Einleitung

Das politische und geistige Klima der BRD in den 1980er Jahren ist gekennzeichnet durch das Bemühen der CDU/FDP-Regierung seit der „Wende“ von 1982 (Ablösung der „Sozial-Liberalen“ Koalition durch die „Christlich-Liberale“), Deutschland international „neu“ zu positionieren: Von regierungs-amtlicher Seite wird eine „Schlussstrich-Debatte“ inszeniert, die es ermöglichen soll, aus dem „Schatten der Vergangenheit“ herauszutreten, eine „normale Nation“ unter den anderen (westlichen) zu werden, die Grenzen einer politischen „Mittelmacht“ zu überschreiten. Luzide erkennt Alfred Dregger (damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU) in der „Studentenbewegung“ und deren Folgen „den größten Bruch in der deutschen Geschichte“, vorallem im Hinblick auf die Thematisierung der NS-Zeit.

Im Jahre 1985 hält Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes eine Rede, in der erstmalig (sic!) Deutschland die Schuld am II. WK zugewiesen wird. Bundeskanzler Kohl gedenkt mit dem französischen Staatspräsidenten der deutschen und französischen Toten der Weltkriege, der amerikanische Präsident Reagan wird von ihm auf einen Soldatenfriedhof gelockt (Bitburg/1986), auf dem auch Angehörige der SS-Panzer-Division „Das Reich“ begraben liegen (eine Kompanie dieser Truppe hat in Oradour-sur-Glane fast siebenhundert Zivilisten ermordet!).

Im Rahmen der Kontroverse um die Aufführung eines Theaterstückes von Rainer W. Fassbinder („Der Müll, die Stadtund der Tod“) in Frankfurt, das zurecht wegen antisemitischer Konnotationen kritisiert wird, ruft ein bekannter Redakteur der „Frankfurter Rundschau“ das „Ende der Schon- zeit“ für Juden aus.

Der Mainstream der deutschen Geschichtswissenschaft sucht noch immer den schriftlichen „Führerbefehl“ zur Vernichtung der europäischen Juden, der primär rassistische Charakter der NS-Ideologie wird – von links bis rechts – nicht wahrgenommen.

Den Israelis erläutert Kanzler Kohl die „Gnade der (seiner) späten Geburt“; Regierungssprecher Boehnisch ist in einem langen schwarzen Ledermantel angereist …

Im deutschen Bundestag scheitern die Ansprüche von NS- Opfern in beschämenden „Wiedergutmachungsdebatten“ (H. Funke).

Die Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte häufen sich, es sind Tote zu beklagen, durch die deutschen Wälder streifen vermehrt rechtsradikale „Wehrsportgruppen“.


Die Eröffnung der Revisionismusdebatte in Deutschland

Im Juni des Jahres 1986 gibt der kürzlich verstorbene Journalist und Hobby-Historiker Joachim Fest, damals Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Autoren Ernst Nolte die Gelegenheit, in der FAZ einen Artikel zu veröffentlichen („Vergangenheit, die nicht vergehen will“), dessen Platz bis dahin in einer Postille der Alt- und Neonazi-Szene zu verorten gewesen wäre.

Dieser Text und ihm folgende Publikationen intendieren eine breite geschichtsrevisionistische Offensive, die Deutschland endgültig exkulpieren soll.

So wird die Einzigartigkeit („Singularität“) des Genozids an den Juden Europas geleugnet, der nationalsozialistische „Rassenmord“ sei vielmehr eine Nachahmung des stalinistischen „Klassenmordes“, eine in letzter Konsequenz der Sowjetideologie geschuldete „asiatische Tat“ gewesen, (Nolte: „War nicht der ‚Klassenmord’ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords’ der Nationalsozialisten?”), der ein möglicher „Präventivcharakter“ zugrunde lag. (Nolte:„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische’ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen’ Tat betrachteten?“).

Zudem habe es eine „Kriegserklärung“ des „Weltjudentums“ an das „Dritte Reich“ gegeben, eine Behauptung, die unverhüllt der NS-Ideologie entnommen ist und die Opfer der Shoah zu Kombattanten erklärt.

Das deutsche Lagersystem (Arbeits-/„Konzentrations“-/Vernichtungslager) sei dem Vorbild des stalinistischen Gulag geschuldet. (Nolte: „War nicht der ‚Archipel GULag’ ursprünglicher als Auschwitz?“).

Der Soziologe Jürgen Habermas antwortet Ernst Nolte als erster, kritisiert dessen Ungeheuerlichkeiten, einige deutsche Wissenschaftler werden sich anschließen.

Das Gros vor allem der (bekannteren) deutschen Historiker jedoch ist eher bemüht, den Exponenten der geschichtsrevisionistischen Historisierung des Nationalsozialismus und seine skandalösen Behauptungen zu verteidigen.

Die Kontroverse wird sehr bald auf internationaler Ebene fortgeführt (umgehend und zurecht als „Revisionismusdebatte“ bezeichnet), wobei der internationale Forschungsstand die Versäumnisse der deutschen „Auseinandersetzung“ mit dem Nationalsozialismus deutlich werden lässt.


Von der Gnade der geschenkten Nation“

Ein Buch mit gleich lautendem Titel, herausgegeben von Hajo Funke im Jahre 1988 setzt sich mit „den bundesdeutschen Skandalen der achtziger Jahre“ auseinander. Der Titel indes scheint noch deutlicher zu benennen, was seit 1989/90 geschehen ist und geschieht.

Das Kollabieren der sich sozialistisch genannt habenden Staaten ermöglicht den Anschluss der DDR an die BRD („Beitritt in den Geltungsbereich des Grundgesetzes“), fortan gibt es wieder ein Deutschland.

Nun gilt es die „DDR-Vergangenheit aufzuarbeiten“ und wenn auch Propaganda und Wirklichkeit gravierende Diskrepanzen aufweisen, der Stalinismus gerät in den Vordergrund. Gestört wird dieses politisch motivierte Vorhaben durch Ereignisse wie bspw. die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ (1995), die sog.

Goldhagen-Kontroverse („Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“/1996), die Restitutionsansprüche vor allem osteuropäischer NS-Opfer (Zwangsarbeiter) usw.

Die 90er Jahre sind geprägt von rassistischen und ausländerfeindlichen Exzessen bis dahin unbekannter Dimensionen; seit der Vereinigung nimmt die Zahl antisemitischer Vorfälle kontinuierlich zu.

Die geschichtsrevisionistische Perspektive des „Historikerstreits“ hat die Grundlagen für eine finale Schlussstrich-Mentalität geliefert. Das Klima im vereinigten Deutschland scheint von einer geradezu bornierten Geschichtsvergessenheit geprägt.

Martin Walsers Invektiven anlässlich seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenpreises des deutschen Buchhandels 1998 ist hier ebenso anzuführen (er will „von der Dauerrepräsentanz unserer Schande befreit“ werden, verwahrt sich gegen „die Moralkeule Auschwitz“), wie die quälende, über ein Jahrzehnt währende Debatte um ein zentrales Holocaust-Mahnmal.

Hinzu kommen in jüngster Zeit bspw. Jörg Friedrich, der die Aktionen der alliierten Luftstreitkräfte während des Zweiten Weltkrieges provokativ in der Terminologie schildert, die für die Vernichtung des europäischen Judentums steht; so werden die Deutschen zu einem „ethnisch bestimmten Opferkollektiv“(H. Funke), welches dem „kriegsverbrecherischen Ausrottungswahn der Alliierten“ ausgeliefert war.

Der FDP-Politiker, Reserveoffizier und Fallschirmspringer Jürgen Möllemann ist zu erwähnen, der den Juden attestierte, selbst verantwortlich für den Antisemitismus zu sein, oder der CDU-Hinterbänkler Hohmann, der die Juden zum „Tätervolk“ erklärte.

Auch Joachim Fest war immer eindeutig positioniert, seine „Hitler-Biographie“ wissenschaftlich unbedeutend, dabei den Nationalsozialismus mystifizierend und personalisierend, die Speer-Biographie offen affirmativ, apologetisch und exkulpierend, da in Kenntnis der Fakten Speer entlastend (H. Heer). Fests Einfluss jedoch war und ist immens: Er ist die „Graue Eminenz“, die hinter dem ZDF-Historiker G. Knopp stehend, Drehbuch und Regie für dessen geschichtsklitternde, relativierende und revisionistische Fernseh-Anekdoten führt(e), unterstützt von dem allzeit bereiten Berliner Fernseh-Politologen Arnulf Baring.


Die Weichen für die Zukunft sind gestellt

Unter „Erinnerungskultur“ wird im öffentlichen geschichts-politischen Diskurs in zunehmendem Maße das Gedenken an „deutsche Opfer“ während des II. WK verstanden. Was mit der Gestaltung der „Neuen Wache“ in Berlin begann, findet Fortsetzung in dem Bemühen, die KZ-Gedenkstätten in Orte des unterschiedslosen Erinnerns an die (deutschen) Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus zu verwan- deln, wobei sukzessive letzterer dominant geworden ist.

Die NS-Zeit erscheint eher unbestimmt, vage und wenig konturiert, so bspw. wenn Gedenktage für Dresden zelebriert werden, oder es um ein Denkmal für die „Vertriebenen“ geht.

Bereits im Jahre 2004 kündigten der Zentralrat der Juden sowie der Zentralrat der Sinti und Roma die Zusammenarbeit mit der sächsischen Landesregierung auf, nachdem auf Initiative der sächsischen CDU und der CDU-Bundestagsfraktion die Vorlage für ein Gedenkstättengesetz einge- bracht werden sollte, dass in genau diese totalitarismus-theoretische, differenzierungslose Richtung wies.

Wenn dem Taumel der „Wiedervereinigung“ auch die politische und ökonomische Ernüchterung folgte, die außenpolitischen Ambitionen aller deutschen Regierungen seit 1990 erfordern in der Innenpolitik offensichtlich eine „Leitkultur“,die von Nationalismus und Patriotismus geprägt ist; deutsche Soldaten sind nunmehr nicht mehr trotz, sondern wegen des Zweiten Weltkrieges international im Einsatz, nicht trotz, sondern wegen des Nationalsozialismus gibt es wieder das Bestreben, zu einer „Großmacht“ zu avancieren.

Millionen mit Deutschlandfahnen wedelnder Fußballfans darf da nicht die Freude genommen werden, die Nationalhymne zu brüllen – deren Text eben doch auf unrühmliche Zeiten verweist – wobei sich gerade die inkriminierte Strophe als Gassenhauer erweist.

Es ist zu befürchten, dass Deutschland, (nicht nur) auf den Nationalsozialismus bezogen, in wenigen Jahren endgültig zu einem „Land der Ahnungslosen“ geworden sein wird.

Der „Historikerstreit“, 1986 begonnen und seitdem virulent, wird hierzu wesentliches beigetragen haben; es geht um nichts weniger, als „Deutungshoheit“ über die Geschichte und wieder einmal scheint sich zu bewahrheiten: „TheWinner Takes It All“!

Michael Moreitz
Gastdozent – ASFH


Literatur

Antifaschistisches Info Blatt, Erinnerungskultur in Deutschland, Vergessen, Verschweigen, Vereinnahmen, AIB-Spezial, Nr. 67, Berlin 2005

Brumlik, Micha/Funke, Hajo/Rensmann, Lars, Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2004

2 Cullen, Michael S. (Hg.), Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1999

Diner, Dan (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/M. 1987

ders., (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988

Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1984

ders., Hitler war kein Betriebsunfall. Aufsätze, München 1993

Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999

ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005

Funke, Hajo (Hg.), Von der Gnade der geschenkten Nation. Zur politischen Moral der Bonner Republik, Berlin 1988

ders., Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Berlin 1989

Giordano, Ralph, Die zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987

Goldhagen, Daniel J., Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996

Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hg.), Vernichtungskrieg.Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944

Heer, Hannes, „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2005

Historikerstreit“. Die Dokumente der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987

Klundt, Michael u.a., Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert, Giessen 2003

Mosse, George L., Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1991

Pehle, Walter H., (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt/M. 1990

Wippermann, Wolfgang, Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse, Berlin 1997

ders., Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus, Berlin 1998

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